Im Jahre 1863, als die ersten Fußballregeln aufgestellt wurden, dachte noch niemand an das ballorientierte Verteidigen innerhalb einer Viererkette. Doch wenn man sich die Geschichte des Verteidigens ansieht, erkennt man darin auch die Geschichte des Fußballs. Die Entwicklung dieses effektiven Verteidigungssystem hat sehr lange gedauert. Erst bei der Weltmeisterschaft 135 Jahre später in Frankreich war es soweit, dass der Großteil der Mannschaften mit Viererkette spielten. Jetzt im Jahr 2009 spielen alle Profimannschaften der Welt mit einer ballorientierten Verteidigung.
Die ersten Systeme mit einer ballorientierten Verteidigung findet man bereits recht früh im Fußball. Man muss wissen, dass man in den Anfangstagen des Fußballs auf Verteidiger verzichtete und mit bis zu neun Angreifern agierte. Im Laufe der Zeit stellte sich aber heraus, dass man mehr im Ballbesitz ist, wenn man auf einige Angreifer zu Gunsten von Verteidigern verzichtet. Also entwarf der Brite Charles William Alcock um 1870 ein Spielsystem mit Verteidigern und Mittelfeldspielern und gewann mit seinem Klub Wanderers FC zwischen 1872 und 1878 fünfmal den nationalen Pokal. Das zu seiner Zeit revolutionäre 2-2-6-System setzte sich sehr schnell gegenüber dem alten 0-1-9-System durch. In diesem neuen System standen nun zwei bis vier Verteidiger sechs Angreifern gegenüber. Um diese Unterzahlsituation nun einigermaßen zu meistern, musste man ballorientiert spielen.
Ein weiterer großer Schritt in Richtung der heutigen Viererkette war die sogenannte Schottische Furche. In diesem von 1877 bis 1925 praktizierten System wurden erstmals die heute bekannten Mannschaftsteile eingeführt, wie auch das geordnete Zusammenspiel. Zuvor waren im Fußball robuste Einzelkämpfer gefragt, die auf engem Raum an einer hohen Zahl gegnerischer Spieler vorbei dribbeln mussten. Mit dem neuen 2-3-5-System wurde jetzt das Kombinationsspiel und das Zusammenwirken der einzelnen Mannschaftsteile in den Vordergrund gestellt. Die Spieler hatten von nun an offensive und defensive Aufgaben zugleich, die sie auf gedachten vertikalen Linien auf dem Spielfeld erfüllen sollten. Ein Nachteil der Schottischen Furche aus Sicht des modernen Fußballs war die Einführung der Manndeckung. Dadurch, dass die Zahl der Verteidiger erhöht wurde, war die ballorientierte Verteidigung nicht mehr zwingend erforderlich.
1925 erfolgte eine Änderung der Abseitsregel. So hob jetzt nur noch – wie heute – ein Verteidiger das Abseits auf. Zuvor konnte noch ein zweiter Verteidiger als Absicherung dahinter stehen und trotzdem stand der Angreifer bei der Ballabgabe im Abseits. Also war bisher ein Zuspiel nur regelkonform, wenn zwei gegnerische Spieler beim Zeitpunkt des Passes nach vorne zwischen Torlinie und Passempfänger standen. Diese Änderung der Abseitsregel war notwendig geworden, da immer mehr Mannschaften die Abseitsfalle so gut beherrschten, dass immer weniger Tore fielen.
Mit der neuen Abseitsregel waren auch neue Taktiken gefragt. So entstand das sogenannte WM-System, mit dem Deutschland 1930, 1934 und 1954 bei den Fußball-Weltmeisterschaften antrat. Es wurde mit drei manndeckenden Verteidigern gespielt. Das neue 3-2-5-System war damit das erste System, welches eine richtige Abwehrkette beinhaltete.
Bei der Weltmeisterschaft 1938 kam ein weiteres, revolutionäres Spielsystem auf, nämlich der sogenannte Schweizer Riegel. Dieses von Karl Rappan erfundene System sah vor, dass durch schnelles Umschalten bei Balleroberung bzw. Ballverlust stets eine Überzahlsituation in Ballnähe geschaffen wird. Bei einer Balleroberung seiner Mannschaft schalteten sich alle bis auf einen Spieler in den Angriff ein. Diesen zurückgebliebenen Spieler kann man durchaus als Vorläufer des späteren Liberos bezeichnen. Die Schweizer Nationalmannschaft schaffte es mit diesem System 1938 bis ins WM-Viertelfinale.
Anfang der 50er-Jahre entstanden weitere revolutionäre Spielsysteme. Die stärkste Mannschaft jener Zeit – die Ungarn – spielten mit einer 4er-Abwehrkette und dem Torwart Gyula Grosics als Ausputzer dahinter. Die Brasilianer nicht minder eifrig, den damaligen Fußball zu perfektionieren, führten bei der WM 1950 das Prinzip der Absicherung in der Defensive ein. Hinter der Abwehr agierte nun ein freier Mann (Libero), der sich ballorientiert hinter seinen Verteidigern verschob. Die WM 1958 könnte man als Geburtsstunde der modernen Viererkette bezeichnen. Die Brasilianer übernahmen das ungarische 4-2-4-System und je nachdem, ob man in Ballbesitz war oder nicht, spielte man mit sechs Angreifern bzw. sechs Verteidigern. Dieses System erforderte eine Menge Laufarbeit der zwei Mittelfeldspieler. Die Viererkette der Brasilianer agierte bei größerer Entfernung vom eigenen Tor ballorientiert und in Tornähe mit Manndeckung. Mit dem 4-2-4 wurde Brasilien 1958 Weltmeister und viele Mannschaften versuchten das neue System zu kopieren.
In den 70er- und 80er-Jahren wurde der Fußball immer mehr kultiviert. So agierten hauptsächlich zu jener Zeit die sehr erfolgreichen niederländischen und belgischen Klubs mit Raumdeckung, Pressing, Abseitsfalle und Viererkette. Alles Attribute, die heute den modernen Fußball ausmachen. Auch die niederländische Nationalmannschaft unter Rinus Michels spielte bei der WM 1974 mit einer Viererkette und sogar mit offensiv ausgerichteten Außenverteidigern und wurde so mit einem attraktiven Fußball Vizeweltmeister.
Ein weiterer wichtiger Schritt für den modernen Fußball war das sogenannte Ajax-System. In den 90er-Jahren ließ Louis van Gaal mit Ajax Amsterdam ein 3-4-3 spielen und wurde so mehrmals niederländischer Meister und Champions League-Sieger. Abgesehen von zwei manndeckenden Verteidigern agierte die gesamte Mannschaft mit der Raumdeckung und dem Ziel, in Ballnähe eine Überzahlsituation zu schaffen. Der Torwart übernahm hier einige Funktionen des eingemotteten Liberos, in dem er weit vor seinem Tor agierte und so lange Pässe abfangen konnte.
Bei der WM 1998 war es dann soweit, dass die meisten Mannschaften auf das ballorientierte Verteidigen innerhalb einer Viererkette setzten. Die deutsche Nationalmannschaft verschlief jedoch die Entwicklung und ging 1998 mit Libero und einer 0:3 Niederlage gegen Kroatien im Viertelfinale sang- und klanglos unter. Der Weltmeister Frankreich agierte mit einer derart guten Viererkette, dass man dieses Turnier als den Durchbruch der Viererkette bezeichnet.
Bei der WM 2002 in Japan und Südkorea mit Rudi Völler als Bundestrainer spielte dann auch die deutsche Nationalmannschaft mit Viererkette. Erst im Finale musste man sich Brasilien mit 2:0 geschlagen geben. Im ganzen Turnier bekam man nur drei Gegentreffer, soviel wie vier Jahre zuvor in einem Spiel. Damit war Deutschland fast die letzte Nation, die eine Umstellung auf das ballorientierte Verteidigen vollzog.
Die Geburtsstunde der deutschen Viererkette
1981 war ein ganz besonderes Jahr für den deutschen Fußball. Man könnte es als Geburtsstunde der deutschen Viererkette bezeichnen. 1981 hat Helmut Groß nämlich als erster deutscher Trainer mit einer ballorientierten Verteidigung gespielt!
Helmut Groß war damals sehr vom System der niederländischen Nationalmannschaft unter Ernst Happel angetan. Die Niederländer waren Anfang der 80er-Jahre eine der wenigen Mannschaften der Welt, die mit einer ballorientierten Verteidigung spielten. In Deutschland gab es damals nur den Libero und die Manndeckung. Dieses System sah Groß jedoch als sehr unökonomisch. Die Defensivspieler mussten alle Laufwege des Gegners mitmachen und dies kostete viel Kraft. Doch mittels der ballorientierten Verteidigung mussten die Spieler weniger laufen, da die gegnerischen Spieler übergeben wurden. Die so gesparte Kraft setzte man für ein aggressives Pressing ein. Man setzte den Gegner früh unter Druck und zwang ihn so zu Fehlern und konnte sich dann mittels schnellem Kurzpassspiel nach vorne viele gefährliche Torchancen erspielen.
Helmut Groß übernahm 1981 den Verbandsligisten SC Geislingen und er wollte hier auf Basis des niederländischen Fußballs etwas Einzigartiges schaffen. Ihm gefiel das Spiel der Niederländer, doch aus seiner Sicht brach es nicht radikal genug mit dem alten. So ergänzte er dieses System mit der Vorgabe beim Angriff des Gegners, sich so zu verschieben, dass man möglichst weit vor dem eigenen Tor eine Überzahlsituation schuf und schon im Mittelfeld die gegnerische Mannschaft zu Fehlern zwang. Groß' Devise war: Je weniger Zeit und Raum für den Ballführenden, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er Fehler macht.
Nach Geislingen wechselte er zum gleichklassigen VfL Kirchheim. Kirchheim stieg mit seinem zur damaligen Zeit revolutionären Spielsystem in die Oberliga auf und wurde in den Jahren 1987 und 1988 zweimal württembergischer Meister. Noch heute spricht man dort von dem 1:1 gegen den damaligen Europapokalsieger Dynamo Kiew. Der damalige Trainer Kiews Valerij Lobanowski war gleichzeitig Nationaltrainer Rußlands und staunte darüber, dass eine unterklassige Mannschaft aus Deutschland eine ähnliche Taktik wie seine Mannschaft spielte.
Mitte der 80er Jahre trat Groß in den Trainerlehrstab des württembergischen Fußball-Verbandes ein und dort erarbeitete er zusammen mit Ralf Rangnick ein Lehrsystem, um das ballorientierte Verteidigen den Jugend- und Amateurtrainern des Verbandes näher zu bringen. Damit war Württemberg der erste Deutsche Fußballverband, der das Spiel mit der Viererkette in Deutschland forcierte!
Im Jahr 1989 wurde Groß Jugendkoordinator des VfB Stuttgarts. Dort erarbeitete er eine einheitliche Spielphilosophie, die u.a. besagte, dass alle Jugendmannschaften mit einer ballorientierten Verteidigung zu spielen haben. In dieser Zeit fiel es auch, dass Groß Ralf Rangnick als Trainer der A-Jugend nach Stuttgart holte.
2008 war es dann umgekehrt der Fall. Ralf Rangnick hat mit der TSG 1899 Hoffenheim den Durchmarsch bis in die 1. Bundesliga geschafft und holte Helmut Groß als Scout nach Hoffenheim. Außerdem war der ehemalige Bauingenieur dort für die Spielebeobachtung der kommenden Gegner zuständig.
Aus Spielend zur Viererkette von Martin Hasenpflug aus dem Jahr 2009.